Durchsuchungsanordnung bei anonymer Anzeige

Bei anonymen Anzeigen müssen die Voraussetzungen des § 102 StPO im Hinblick auf die schutzwürdigen Interessen des Beschuldigten wegen der erhöhten Gefahr und des nur schwer bewertbaren Risikos einer falschen Verdächtigung besonders sorgfältig geprüft werden; als Grundlage für eine stark in Grundrechtspositionen eingreifende Zwangsmaßnahme wie eine Durchsuchung kann eine anonyme Aussage nur genügen, wenn sie von beträchtlicher sachlicher Qualität ist oder mit ihr zusammen schlüssiges Tatsachenmaterial vorgelegt worden ist.

BVerfG, 3. Kammer des 2. Senats, Beschl. v. 14.07.2016 – 2 BvR 2474/14

Aus den Gründen:

Angaben anonymer Hinweisgeber sind als Verdachtsquelle zur Aufnahme weiterer Ermittlungen dabei nicht generell ausgeschlossen. Ein solcher pauschaler Ausschluss widerspräche dem zentralen Anliegen des Strafverfahrens, nämlich der Ermittlung der materiellen Wahrheit in einem justizförmigen Verfahren als Voraussetzung für die Gewährleistung des Schuldprinzips. Bei anonymen Anzeigen müssen die Voraussetzungen des § 102 StPO im Hinblick auf die schutzwürdigen Interessen des Beschuldigten aber wegen der erhöhten Gefahr und des nur schwer bewertbaren Risikos einer falschen Verdächtigung besonders sorgfältig geprüft werden (vgl. z.B. LG Offenburg, Beschl. v. 15.09.1997 – Qs 114/97, StV 1997, 626 f.; LG Regensburg, Beschl. v. 05.02.2004 – 1 Qs 111/03, StV 2004, 198; LG Karlsruhe, Beschl. v. 22.08.2005 – 2 Qs 65/05, StraFo 2005, 420 f.; LG Bad Kreuznach, Beschl. v. 10.12.2014 – 2 Qs 134/14, StraFo 2015, 64 f.). Bei der Prüfung des Tatverdachts und der Verhältnismäßigkeitsabwägung sind insbes. der Gehalt der anonymen Aussage sowie etwaige Gründe für die Nichtoffenlegung der Identität der Auskunftsperson in den Blick zu nehmen; als Grundlage für eine stark in Grundrechtspositionen eingreifende Zwangsmaßnahme wie eine Durchsuchung kann eine anonyme Aussage nur genügen, wenn sie von beträchtlicher sachlicher Qualität ist oder mit ihr zusammen schlüssiges Tatsachenmaterial vorgelegt worden ist (vgl. z.B. BGHSt 38, 144 [147] [= StV 1992, 106]; LG Stuttgart, Beschl. v. 07.09.2007 – 7 Qs 71/07, juris Rn. 31).

[18] 3. Dem Gewicht des Eingriffs und der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Schutzes der räumlichen Privatsphäre entspricht es außerdem, dass Art. 13 Abs. 2 GG die Anordnung einer Durchsuchung grundsätzlich dem Richter vorbehält und damit eine vorbeugende Kontrolle der Maßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz vorsieht (vgl. BVerfGE 20, 162 [223]; 57, 346 [355 f.]; 76, 83 [91]; 103, 142 [150 f.]; 139, 245 [265 Rn. 57]). Die Einschaltung des Richters soll dabei insbes. dafür sorgen, dass die Interessen des Betroffenen angemessen berücksichtigt werden (vgl. BVerfGE 103, 142 [151] [= StV 2001, 207 [BVerfG 20.02.2001 – 2 BvR 1444/00]]). Besondere Bedeutung kommt dabei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu, weil nur so im Einzelfall die Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs sichergestellt werden kann. Der Richter darf die Wohnungsdurchsuchung nur anordnen, wenn er sich aufgrund einer eigenverantwortlichen Prüfung der Ermittlungen davon überzeugt hat, dass die Maßnahme verhältnismäßig ist (vgl. BVerfGE 96, 44 [51] [= StV 1997, 394 [BVerfG 27.05.1997 – 2 BvR 1992/92]]).

[19] 4. Um eine solche ordnungsgemäße Prüfung durch den Richter sicherzustellen, ist es erforderlich, dass die Ermittlungsbehörden (StA/Polizei) die Einhaltung des Grundsatzes der Aktenwahrheit und der Aktenvollständigkeit gewährleisten. Dieser Grundsatz muss dabei nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt sein, denn dieses Prinzip folgt bereits aus der Bindung der Verwaltung (und der Justiz) an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) und der aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Pflicht zur Objektivität (vgl. BVerfG, Beschl. v. 06.06.1983 – 2 BvR 244/83, 2 BvR 310/83, juris Rn. 3; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 30.07.2014 – 1 S 1352/13, juris, Rn. 90).