Prognoseentscheidung bei DNA-Untersuchung zur Nutzung in künftigen Strafverfahren
StV 2017 Heft 8 – 498
1. Die Feststellung, Speicherung und (künftige) Verwendung eines DNA-Identifizierungsmusters greift in das durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verbürgte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Die Gerichte sind bei der Auslegung und Anwendung des § 81g StPO gehalten, die Bedeutung und Tragweite dieses Grundrechts angemessen zu berücksichtigen.
2. Notwendig für die Anordnung einer Maßnahme nach § 81g StPO ist, dass wegen der Art oder Ausführung der bereits abgeurteilten Straftat, der Persönlichkeit des Verurteilten oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass gegen ihn erneut Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sind. Die Prognoseentscheidung setzt voraus, dass ihr eine zureichende Sachaufklärung vorausgegangen ist und die für sie bedeutsamen Umstände nachvollziehbar dargestellt und abgewogen werden. Dabei ist stets eine auf den Einzelfall bezogene Entscheidung erforderlich; die bloße Wiedergabe des Gesetzeswortlauts reicht nicht aus.
BVerfG, 2. Kammer des 2. Senats, Beschl. v. 03.05.2016 – 2 BvR 2349/15
Aus den Gründen:
I. 1. Das AG Augsburg verurteilte den nicht vorbestraften Bf. am 25.11.2014 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 6 M., deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Nach den Feststellungen schlug der Bf. am 30.05.2013 im Rahmen einer längeren Auseinandersetzung in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit einem Mitangekl. auf den Nebenkl. ein, wodurch dieser diverse Prellungen im Gesicht und an den Rippen, Schwellungen sowie andauernde Übelkeit und Schmerzen am Schultergelenk erlitt. Das Urt. ist rechtskräftig.
2. Auf Grund dieses Urt. ordnete das AG Augsburg auf Antrag der StA mit Beschl. v. 06.10.2015 die molekulargenetische Untersuchung der durch eine körperliche Untersuchung zu erlangenden Körperzellen des Bf. zum Zwecke der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren an (vgl. § 81g Abs. 1 S. 1 und Abs. 4 StPO). Zur Begründung führte es aus, dass es sich bei der am 25.11.2014 abgeurteilten Straftat um eine solche von erheblicher Bedeutung i.S.v. § 81g Abs. 1 S. 1 StPO handle, denn sie zeuge »von einem hohen Maß an Brutalität und Gewaltbereitschaft des Betroffenen«. Wegen dieser erheblichen Gewaltbereitschaft bestehe zudem Grund zu der Annahme, dass gegen den Bf. auch künftig Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sein werden.
3. Die hiergegen eingelegte Beschwerde des Bf. wurde vom LG Augsburg mit Beschl. v. 06.11.2015 als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung führte das LG lediglich aus, es teile die Auffassung des Erstgerichts und trete den Gründen der angefochtenen Entscheidung, die durch das Beschwerdevorbringen nicht entkräftet würden, bei.
4. Den vom Bf. gestellten Antrag, das Verfahren in die Lage vor Erlass der Entscheidung v. 06.11.2015 zurückzuversetzen, lehnte das LG Augsburg mit Beschl. v. 26.11.2015 ab.
II. Mit seiner Verfassungsbeschwerde macht der Bf. geltend, die Begründung der angefochtenen Beschlüsse sei unzureichend und verletze ihn in seinem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG). Soweit die Fachgerichte von einem hohen Maß an Brutalität und Gewaltbereitschaft ausgingen, stünde dies nicht in Einklang mit den im Urt. v. 25.11.2014 getroffenen Feststellungen. Zudem genüge die Begründung der Negativprognose nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Die angegriffenen Entscheidungen ließen weder den Prognosemaßstab noch eine konkrete, auf den Einzelfall bezogene Begründung der Wiederholungsgefahr erkennen. […]
V. […] 1. Die Feststellung, Speicherung und (künftige) Verwendung eines DNA-Identifizierungsmusters greift in das durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verbürgte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Dieses Recht gewährleistet die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden (BVerfGE 65, 1 [41 ff.]; 78, 77 [84]). Diese Verbürgung darf nur im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden; die Einschränkung darf nicht weiter gehen, als es zum Schutz des öffentlichen Interesses unerlässlich ist (vgl. BVerfGE 103, 21 [32 f.] [= StV 2001, 145 [BVerfG 14.12.2000 – 2 BvR 1741/99]]).
Die Gerichte sind bei der Auslegung und Anwendung des § 81g StPO gehalten, die Bedeutung und Tragweite dieses Grundrechts angemessen zu berücksichtigen (vgl. nur BVerfG, 3. Kammer des 2. Senats, Beschl. v. 29.09.2013 – 2 BvR 939/13, NStZ-RR 2014, 48 m.w.N. [= StV 2014, 577 [BVerfG 29.09.2013 – 2 BvR 939/13]]). Notwendig für die Anordnung einer Maßnahme nach § 81g StPO ist, dass wegen der Art oder Ausführung der bereits abgeurteilten Straftat, der Persönlichkeit des Verurteilten oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass gegen ihn erneut Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sind. Die Prognoseentscheidung setzt voraus, dass ihr eine zureichende Sachaufklärung vorausgegangen ist und die für sie bedeutsamen Umstände nachvollziehbar dargestellt und abgewogen werden. Dabei ist stets eine auf den Einzelfall bezogene Entscheidung erforderlich; die bloße Wiedergabe des Gesetzeswortlauts reicht nicht aus.