Konsumcannabisgesetz – Bundesgerichtshof setzt
Grenzwert der nicht geringen Menge für
Tetrahydrocannabinol (THC) auf 7,5 g fest

 

Beschluss vom 18. April 2024 – 1 StR 106/24

Das Landgericht Ulm hatte die Angeklagten A. und M. wegen Betäubungsmitteldelikten im Zusammenhang mit dem Betrieb einer Marihuanaplantage nach der bisher geltenden Rechtslage jeweils zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt.

Auf der Grundlage der vom Landgericht getroffenen Feststellungen hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs das Urteil im Verfahren über die Revisionen der beiden Angeklagten entsprechend den zum 1. April 2024 in Kraft getretenen Bestimmungen des Konsumcannabisgesetzes (KCanG) im Schuldspruch jeweils neu gefasst. Zudem hat er den Grenzwert der nicht geringen Menge i.S. von § 34 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 KCanG auf 7,5 g Tetrahydrocannabinol (THC) festgesetzt.

Infolge des gegenüber der bisherigen Rechtslage niedrigeren Strafrahmens des § 34 Abs. 3 Satz 1 KCanG hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs das Urteil im Strafausspruch aufgehoben und insoweit zur erneuten Strafbemessung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Vorinstanz:

LG Ulm – Urteil vom 18. Dezember 2023 – 2 KLs 73 Js 9434/23

Zur Erklärung: bis 60g straffrei – ab 61g besonders schwerer Fall mit Mindeststrafe 3 Monate.

Ver­ur­tei­lung wegen Han­dels mit CBD-Blüten

„Das Landgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die von den Angeklagten bei den beiden Taten jeweils gehandelten 60 kg Blüten von Cannabispflanzen mit hohem Cannabidiolanteil (CBD-Blüten) Betäubungsmittel im Sinne des § 1 Abs. 1 BtMG iVm Anlage I zu § 1 Abs. 1 BtMG waren. Es handelte sich nach der zutreffenden Bewertung der Strafkammer um Teile von zur Gattung Cannabis gehörenden Pflanzen, die nicht der Ausnahmeregelung unter Buchst. b zur Position Cannabis in der Anlage I zu § 1 Abs. 1 BtMG unterfielen.
Zwar lag der Gehalt des Wirkstoffs THC – der, anders als Cannabidiol, psychoaktiv ist – in den Blüten bei 0,2 %, sodass er den Grenzwert der Ausnahmevorschrift nicht überschritt. Auch verfolgten die Angeklagten mit dem Verkauf der Blüten ausschließlich gewerbliche Zwecke im Sinne der Ausnahmevorschrift (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 24. März 2021 – 6 StR 240/20, NStZ 2021, 549, 550 m. krit. Anm. Patzak/Keuth). Nach den Feststellungen war aber – anders als von der Ausnahmevorschrift vorausgesetzt – ein Missbrauch der CBD-Blüten zu Rauschzwecken nicht ausgeschlossen.“

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS vom 23. Juni 2022
5 StR 490/21

Warum? Wenn man die Blüten erhitzt, erhöht sich der THC-Wert. 60 Kg in den Ofen und man hat vermutlich nen geilen Joint.

Übersetzung der Aufforderung, einen Pflichtverteidiger zu benennen

Das Recht auf ein faires Verfahren gebietet es, dass wesentliche Schriftstücke zu übersetzen sind; hierzu gehört auch die Aufforderung, einen Pflichtverteidiger seines Vertrauens zu benennen.

(LG München,04.05.2018 – 16 Qs 12/18)

»All CATS are BEAUTIFUL«

Wer demonstrativ vor Polizeibeamten, bewusst in deren Nähe und auf diese individualisiert einen Stoffbeutel mit der Aufschrift »All CATS are BEAUTIFUL/A.C.A.B.« zur Schau stellt, begeht eine Beleidigung.

(BVerfG, Beschl. v. 13.06.2017 – 1 BvR 2832/15)

Fahruntüchtigkeit nach Drogenkonsum

Anders als bei Alkoholfahrten ergibt sich für eine Verurteilung wegen einer Straftat nach § 316 StGB in Abgrenzung zu § 24a Abs. 2 StVG der Nachweis der Fahruntüchtigkeit nicht allein schon aus einem positiven Blutwirkstoffbefund hinsichtlich Betäubungsmittelkonsums, vielmehr bedarf es regelmäßig weiterer aussagekräftiger Beweisanzeichen.

(OLG Hamburg, Beschl. v. 19.02.2018 – 2 Rev 8/18)

Übersetzung der Aufforderung, einen Pflichtverteidiger zu benennen

Das Recht auf ein faires Verfahren gebietet es, dass wesentliche Schriftstücke zu übersetzen sind; hierzu gehört auch die Aufforderung, einen Pflichtverteidiger seines Vertrauens zu benennen.

(LG München I, Beschl. v. 04.05.2018 – 16 Qs 12/18)

Prognoseentscheidung bei DNA-Untersuchung zur Nutzung in künftigen Strafverfahren

StV 2017 Heft 8 – 498

1. Die Feststellung, Speicherung und (künftige) Verwendung eines DNA-Identifizierungsmusters greift in das durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verbürgte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Die Gerichte sind bei der Auslegung und Anwendung des § 81g StPO gehalten, die Bedeutung und Tragweite dieses Grundrechts angemessen zu berücksichtigen.

2. Notwendig für die Anordnung einer Maßnahme nach § 81g StPO ist, dass wegen der Art oder Ausführung der bereits abgeurteilten Straftat, der Persönlichkeit des Verurteilten oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass gegen ihn erneut Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sind. Die Prognoseentscheidung setzt voraus, dass ihr eine zureichende Sachaufklärung vorausgegangen ist und die für sie bedeutsamen Umstände nachvollziehbar dargestellt und abgewogen werden. Dabei ist stets eine auf den Einzelfall bezogene Entscheidung erforderlich; die bloße Wiedergabe des Gesetzeswortlauts reicht nicht aus.

BVerfG, 2. Kammer des 2. Senats, Beschl. v. 03.05.2016 – 2 BvR 2349/15

Aus den Gründen:

I. 1. Das AG Augsburg verurteilte den nicht vorbestraften Bf. am 25.11.2014 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 6 M., deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Nach den Feststellungen schlug der Bf. am 30.05.2013 im Rahmen einer längeren Auseinandersetzung in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit einem Mitangekl. auf den Nebenkl. ein, wodurch dieser diverse Prellungen im Gesicht und an den Rippen, Schwellungen sowie andauernde Übelkeit und Schmerzen am Schultergelenk erlitt. Das Urt. ist rechtskräftig.

2. Auf Grund dieses Urt. ordnete das AG Augsburg auf Antrag der StA mit Beschl. v. 06.10.2015 die molekulargenetische Untersuchung der durch eine körperliche Untersuchung zu erlangenden Körperzellen des Bf. zum Zwecke der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren an (vgl. § 81g Abs. 1 S. 1 und Abs. 4 StPO). Zur Begründung führte es aus, dass es sich bei der am 25.11.2014 abgeurteilten Straftat um eine solche von erheblicher Bedeutung i.S.v. § 81g Abs. 1 S. 1 StPO handle, denn sie zeuge »von einem hohen Maß an Brutalität und Gewaltbereitschaft des Betroffenen«. Wegen dieser erheblichen Gewaltbereitschaft bestehe zudem Grund zu der Annahme, dass gegen den Bf. auch künftig Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sein werden.

3. Die hiergegen eingelegte Beschwerde des Bf. wurde vom LG Augsburg mit Beschl. v. 06.11.2015 als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung führte das LG lediglich aus, es teile die Auffassung des Erstgerichts und trete den Gründen der angefochtenen Entscheidung, die durch das Beschwerdevorbringen nicht entkräftet würden, bei.

4. Den vom Bf. gestellten Antrag, das Verfahren in die Lage vor Erlass der Entscheidung v. 06.11.2015 zurückzuversetzen, lehnte das LG Augsburg mit Beschl. v. 26.11.2015 ab.

II. Mit seiner Verfassungsbeschwerde macht der Bf. geltend, die Begründung der angefochtenen Beschlüsse sei unzureichend und verletze ihn in seinem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG). Soweit die Fachgerichte von einem hohen Maß an Brutalität und Gewaltbereitschaft ausgingen, stünde dies nicht in Einklang mit den im Urt. v. 25.11.2014 getroffenen Feststellungen. Zudem genüge die Begründung der Negativprognose nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Die angegriffenen Entscheidungen ließen weder den Prognosemaßstab noch eine konkrete, auf den Einzelfall bezogene Begründung der Wiederholungsgefahr erkennen. […]

V. […] 1. Die Feststellung, Speicherung und (künftige) Verwendung eines DNA-Identifizierungsmusters greift in das durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verbürgte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Dieses Recht gewährleistet die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden (BVerfGE 65, 1 [41 ff.]; 78, 77 [84]). Diese Verbürgung darf nur im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden; die Einschränkung darf nicht weiter gehen, als es zum Schutz des öffentlichen Interesses unerlässlich ist (vgl. BVerfGE 103, 21 [32 f.] [= StV 2001, 145 [BVerfG 14.12.2000 – 2 BvR 1741/99]]).

Die Gerichte sind bei der Auslegung und Anwendung des § 81g StPO gehalten, die Bedeutung und Tragweite dieses Grundrechts angemessen zu berücksichtigen (vgl. nur BVerfG, 3. Kammer des 2. Senats, Beschl. v. 29.09.2013 – 2 BvR 939/13, NStZ-RR 2014, 48 m.w.N. [= StV 2014, 577 [BVerfG 29.09.2013 – 2 BvR 939/13]]). Notwendig für die Anordnung einer Maßnahme nach § 81g StPO ist, dass wegen der Art oder Ausführung der bereits abgeurteilten Straftat, der Persönlichkeit des Verurteilten oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass gegen ihn erneut Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sind. Die Prognoseentscheidung setzt voraus, dass ihr eine zureichende Sachaufklärung vorausgegangen ist und die für sie bedeutsamen Umstände nachvollziehbar dargestellt und abgewogen werden. Dabei ist stets eine auf den Einzelfall bezogene Entscheidung erforderlich; die bloße Wiedergabe des Gesetzeswortlauts reicht nicht aus.

Durchsuchungsanordnung bei anonymer Anzeige

Bei anonymen Anzeigen müssen die Voraussetzungen des § 102 StPO im Hinblick auf die schutzwürdigen Interessen des Beschuldigten wegen der erhöhten Gefahr und des nur schwer bewertbaren Risikos einer falschen Verdächtigung besonders sorgfältig geprüft werden; als Grundlage für eine stark in Grundrechtspositionen eingreifende Zwangsmaßnahme wie eine Durchsuchung kann eine anonyme Aussage nur genügen, wenn sie von beträchtlicher sachlicher Qualität ist oder mit ihr zusammen schlüssiges Tatsachenmaterial vorgelegt worden ist.

BVerfG, 3. Kammer des 2. Senats, Beschl. v. 14.07.2016 – 2 BvR 2474/14

Aus den Gründen:

Angaben anonymer Hinweisgeber sind als Verdachtsquelle zur Aufnahme weiterer Ermittlungen dabei nicht generell ausgeschlossen. Ein solcher pauschaler Ausschluss widerspräche dem zentralen Anliegen des Strafverfahrens, nämlich der Ermittlung der materiellen Wahrheit in einem justizförmigen Verfahren als Voraussetzung für die Gewährleistung des Schuldprinzips. Bei anonymen Anzeigen müssen die Voraussetzungen des § 102 StPO im Hinblick auf die schutzwürdigen Interessen des Beschuldigten aber wegen der erhöhten Gefahr und des nur schwer bewertbaren Risikos einer falschen Verdächtigung besonders sorgfältig geprüft werden (vgl. z.B. LG Offenburg, Beschl. v. 15.09.1997 – Qs 114/97, StV 1997, 626 f.; LG Regensburg, Beschl. v. 05.02.2004 – 1 Qs 111/03, StV 2004, 198; LG Karlsruhe, Beschl. v. 22.08.2005 – 2 Qs 65/05, StraFo 2005, 420 f.; LG Bad Kreuznach, Beschl. v. 10.12.2014 – 2 Qs 134/14, StraFo 2015, 64 f.). Bei der Prüfung des Tatverdachts und der Verhältnismäßigkeitsabwägung sind insbes. der Gehalt der anonymen Aussage sowie etwaige Gründe für die Nichtoffenlegung der Identität der Auskunftsperson in den Blick zu nehmen; als Grundlage für eine stark in Grundrechtspositionen eingreifende Zwangsmaßnahme wie eine Durchsuchung kann eine anonyme Aussage nur genügen, wenn sie von beträchtlicher sachlicher Qualität ist oder mit ihr zusammen schlüssiges Tatsachenmaterial vorgelegt worden ist (vgl. z.B. BGHSt 38, 144 [147] [= StV 1992, 106]; LG Stuttgart, Beschl. v. 07.09.2007 – 7 Qs 71/07, juris Rn. 31).

[18] 3. Dem Gewicht des Eingriffs und der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Schutzes der räumlichen Privatsphäre entspricht es außerdem, dass Art. 13 Abs. 2 GG die Anordnung einer Durchsuchung grundsätzlich dem Richter vorbehält und damit eine vorbeugende Kontrolle der Maßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz vorsieht (vgl. BVerfGE 20, 162 [223]; 57, 346 [355 f.]; 76, 83 [91]; 103, 142 [150 f.]; 139, 245 [265 Rn. 57]). Die Einschaltung des Richters soll dabei insbes. dafür sorgen, dass die Interessen des Betroffenen angemessen berücksichtigt werden (vgl. BVerfGE 103, 142 [151] [= StV 2001, 207 [BVerfG 20.02.2001 – 2 BvR 1444/00]]). Besondere Bedeutung kommt dabei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu, weil nur so im Einzelfall die Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs sichergestellt werden kann. Der Richter darf die Wohnungsdurchsuchung nur anordnen, wenn er sich aufgrund einer eigenverantwortlichen Prüfung der Ermittlungen davon überzeugt hat, dass die Maßnahme verhältnismäßig ist (vgl. BVerfGE 96, 44 [51] [= StV 1997, 394 [BVerfG 27.05.1997 – 2 BvR 1992/92]]).

[19] 4. Um eine solche ordnungsgemäße Prüfung durch den Richter sicherzustellen, ist es erforderlich, dass die Ermittlungsbehörden (StA/Polizei) die Einhaltung des Grundsatzes der Aktenwahrheit und der Aktenvollständigkeit gewährleisten. Dieser Grundsatz muss dabei nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt sein, denn dieses Prinzip folgt bereits aus der Bindung der Verwaltung (und der Justiz) an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) und der aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Pflicht zur Objektivität (vgl. BVerfG, Beschl. v. 06.06.1983 – 2 BvR 244/83, 2 BvR 310/83, juris Rn. 3; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 30.07.2014 – 1 S 1352/13, juris, Rn. 90).

Fortsetzungsfeststellungsinteresse bei prozessual überholter Haftbeschwerde

Für die Entscheidung über eine im Zeitpunkt des rechtskräftigen Verfahrensabschlusses noch nicht erledigte (weitere) Haftbeschwerde besteht ein fortbestehendes Rechtsschutzinteresse zwecks Feststellung der Rechtmäßigkeit der Anordnung und Fortdauer der Untersuchungshaft.

KG, Beschl. v. 25.07.2016 – 4 Ws 13/16

Aus den Gründen:

Allerdings ist es mit der durch Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG sowie durch Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG verbürgten Effektivität des Rechtsschutzes grundsätzlich vereinbar, ein Rechtsschutzinteresse nur solange als gegeben anzusehen, wie eine gegenwärtige Beschwer ausgeräumt, einer Wiederholungsgefahr begegnet oder eine fortwirkende Beeinträchtigung beseitigt werden kann. Darüber hinaus kann aber ein Feststellungsinteresse vor allem bei schwerwiegenden, tatsächlich aber nicht mehr fortwirkenden Grundrechtseingriffen fortbestehen. Solche kommen vor allem bei Anordnungen in Betracht, die das Grundgesetz – wie in den Fällen des Art. 13 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 2 und 3 – vorbeugend dem Richter vorbehalten hat, so dass ein Feststellungsinteresse wegen des Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht auch bei der unter Beachtung der Unschuldsvermutung vollzogenen U-Haft zu bejahen ist. Auf diese Weise stehen Anordnungen einer Freiheitsentziehung (Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 Abs. 2 und 3 GG) einer gerichtlichen und verfassungsgerichtlichen Überprüfung offen, auch wenn die angeordnete Maßnahme inzwischen durchgeführt und beendet ist. Auch kommt es im Hinblick auf das insoweit bestehende Rehabilitierungsinteresse nach neuerer verfassungsgerichtlicher Rspr. weder auf den konkreten Ablauf des einzelnen Verfahrens und den Zeitpunkt der Erledigung der Maßnahme noch darauf an, ob Rechtsschutz typischerweise noch vor Beendigung der Haft erlangt werden kann (vgl. BVerfG StraFo 2006, 20 [BVerfG 31.10.2005 – 2 BvR 2233/04] m.w.N. [auch zu anderen freiheitsentziehenden Maßnahmen]). Denn die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG fordert zwar keinen Instanzenzug, gewährleistet aber die Effektivität des Rechtsschutzes i.S. eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle, soweit die jeweils einschlägige Prozessordnung in ihrer konkreten Ausformung eine weitere Instanz eröffnet. Das Rechtsmittelgericht darf ein solches Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Bf. »leer laufen« lassen (BVerfG a.a.O.).

Haftgrund der Fluchtgefahr und Straferwartung

Bei der Beurteilung der Fluchtgefahr scheidet jede schematische Beurteilung anhand genereller Maßstäbe aus, insbes. ist die Annahme unzulässig, dass bei einer Straferwartung in bestimmter Höhe stets (oder nie) ein rechtlich beachtlicher Fluchtanreiz bestehe.

KG, Beschl. v. 13.09.2016 – 4 Ws 130/16

Aus den Gründen:

Entgegen der Auffassung des LG gibt es keine »Grenze« von etwa 2 J., bei der allein aus einer solchen Straferwartung »Fluchtgefahr herzuleiten« und nur noch zu prüfen sei, ob diese durch besondere Tatsachen wieder ausgeräumt werden könne. Der Senat hat in seiner jüngeren Rspr. (vgl. Beschl. v. 03.11.2011 – 4 Ws 96/11; veröffentlicht in StV 2012, 350 m.w.N.) dargelegt, dass bei der Beurteilung der Fluchtgefahr jede schematische Beurteilung anhand genereller Maßstäbe ausscheidet, insbes. die Annahme unzulässig ist, dass bei einer Straferwartung in bestimmter Höhe stets (oder nie) ein rechtlich beachtlicher Fluchtanreiz – nur darum kann es gehen, keinesfalls um den Haftgrund selbst – bestehe. Denn andernfalls käme es zu einer unzulässigen Haftgrundvermutung allein wegen einer bestimmten Strafhöhe. Mit der in StV 2012, 350 veröffentlichten Entscheidung hat sich der Senat gegen frühere Rspr., zu der auch die von der Kammer zit. Entscheidung des KG v. 02.03.2006 – 5 Ws 68/06 – gehörte, gewandt, und er hat die maßgeblichen Rechtsgrundsätze in der Folgezeit präzisiert. Den in der SenatsE v. 03.11.2011 enthaltenen Rechtsgrundsätzen sind die anderen Senate des KG in der Folgezeit beigetreten (vgl. etwa KG, Beschl. v. 27.12.2011 – 2 Ws 586/11; v. 10.01.2014 – 2 Ws 1/14, v. 23.07.2014 – 3 Ws 341/14, v. 21.08.2014 – 1 Ws 61/14 [[…]] und v. 26.10.2015 – 5 Ws 132/15). An den in früheren Entscheidungen enthaltenen Rechtsgrundsätzen, die dem vom LG zit. Grundsatz entsprachen, ist demgemäß nicht festzuhalten (vgl. auch Senat, Beschl. v. 29.08.2016 – 4 Ws 124/16). Der Senat braucht hier nicht zu entscheiden, ob es in Fällen besonders hoher Straferwartung gerechtfertigt ist, an die Tatsachen, die einen deshalb anzunehmenden besonders hohen Fluchtanreiz entkräften können, erhöhte Anforderungen zu stellen. Auch braucht er sich nicht mit der Frage zu befassen, bei welcher Höhe eine solche besonders hohe (Rest-)Straferwartung vorliegt; allerdings kämen angesichts der dargelegten Erwägungen insoweit nur langjährige Strafen bzw. Strafreste, um die es vorliegend indessen nicht geht, in Frage.